Im Systems Engineering taucht immer wieder der Begriff des System of Systems (SoS) auf, der häufig zu Diskussionen über dessen exakte Definition führt. Oftmals ist es nämlich nicht ganz leicht zu differenzieren, wann man es lediglich mit einem System, und in welchen Fällen man es mit einem SoS zu tun hat.
Bei Wikipedia heißt es beispielsweise:
System of systems is a collection of task-oriented or dedicated systems that pool their resources and capabilities together to create a new, more complex system which offers more functionality and performance than simply the sum of the constituent systems.
Ein System of Systems ist demnach ein Verbund von Systemen, die ihre Fähigkeiten und Ressourcen vereinigen um ein neues, komplexeres System zu schaffen, welches mehr Funktionalität bietet als lediglich die Summe der Einzelsysteme aus denen es besteht.
Stellt man dieser SoS-Definition nun eine allgemeine Systemdefinition gegenüber, so ist kaum ein Unterschied feststellbar (Quelle: Wikipedia):
Der Begriff System (…) bezeichnet allgemein eine Gesamtheit von Elementen, die so aufeinander bezogen bzw. miteinander verbunden sind und in einer Weise wechselwirken, dass sie als eine aufgaben-, sinn- oder zweckgebundene Einheit angesehen werden können.
Der Grund, warum diese beiden Definitionen beim ersten Hinsehen sehr ähnlich sind, ist, dass ein System Of Systems zunächst einmal auch nichts anderes als ein System ist, d.h. es erfüllt alle notwendigen Kriterien entsprechend der allgemeinen Systemdefinition.
Warum spricht man aber nun beispielsweise bei einem Auto, einem Satelliten oder selbst bei einem großen System wie einem Airbus A 380 dennoch nicht von einem System of Systems? Schließlich bestehen diese Systeme ja auch aus diversen Elementen, die in Wechselwirkung treten und gemeinsam einen Zweck erfüllen, der von den einzelnen Elementen nicht erfüllt werden kann.
Charakteristische Merkmale für ein System Of Systems
Fünf wesentliche Merkmale sind hilfreich, um Systems of Systems von anderen, mitunter sehr großen und komplexen, aber dennoch monolithischen Systemen zu unterscheiden:
- Operative Unabhängigkeit der Elemente: Die Elemente, aus denen ein System of Systems besteht, sind ihrerseits vollständig autark nutzbare Systeme, d.h. diese Systeme können auch unabhängig voneinander in Betrieb gehen und genutzt werden. Sie können somit auch einen System-of-Systems-Verbund verlassen, um einem anderen System of Systems beizutreten. Das bedeutet: Die Kopplung zwischen den Teilsystemen ist sehr lose.
- Unabhängiges Management der Elemente: Die Teilsysteme eines SoS können nicht nur unabhängig voneinander arbeiten, sie werden in der Regel auch separat entwickelt und beschafft. Ihr Lebenszyklus ist unabhängig von dem Lebenszyklusmodell des System of Systems.
- Evolutionäre Entwicklung: Ein vollkommen fertig entwickeltes System of Systems existiert nicht. Seine Entwicklung und Existenz ist evolutionär, d.h. über den gesamten Lebenszyklus werden auf der Basis von Erfahrungen Funktionen – und damit auch Teilsysteme – hinzugefügt, entfernt oder geändert.
- Emergentes Verhalten: Emergenz (vom lateinischen emergere für „das Auftauchen“, „das Herauskommen“ oder „das Emporsteigen“) ist die spontane Herausbildung von neuen Eigenschaften oder Funktionen eines Systems infolge des Zusammenspiels seiner Elemente. Emergenz kann man gut in der Natur beobachten, beispielsweise beim Schwarmverhalten. Ein großer Vogel-, oder Fischschwarm, sind dafür gute Beispiele. Die einzelnen Individuen eines solchen Schwarms kennen nur die Position und die Fortbewegungsrichtung ihrer unmittelbaren Nachbarn. Durch Emergenz jedoch erscheint die Bewegung des gesamten Schwarms für einen äußeren Beobachter, als wäre sie zentral gesteuert. Übertragen auf ein System of Systems bedeutet das, das durch den Zusammenschluss der Teilsysteme bestimmte Eigenschaften und Dienstleistungen für den Nutzer herausgebildet werden, die nicht mehr eindeutig bestimmten Teilsystemen zugeordnet werden können.
- Geographische Verteilung: Die geografische Ausdehnung und Verteilung der Teilsysteme eines System of Systems ist häufig sehr groß. “Größe” ist sicherlich ein unscharfes und relatives Konzept, aber bezogen auf ein SoS bedeutet es, dass seine Teilsysteme auf Grund ihrer räumlichen Distanz zueinander im wesentlichen nur Informationen (Daten), und nicht erhebliche Mengen an Masse, Stoffen oder Energie austauschen können.
Wie so oft gibt es auch hier Graubereiche. Nicht jedes System of Systems hat immer alle der vorgenannten Merkmale in gleicher Weise. Bei einigen SoS ist beispielsweise die geographische Verteilung eher gering bzw. quasi nicht vorhanden.
Auch wird ein solches Antriebssystem nicht unabhängig vom System gemanagt: es wurde gemeinsam mit dem Flugzeug entwickelt und auf dessen spezielle Eigenschaften abgestimmt. Wird das Flugzeug außer Betrieb genommen und entsorgt, so gilt das auch für seine Teile, und somit auch für das Antriebssystem.
Auch fehlt bei monolithischen Systemen in der Regel das bei System of Systems erwünschte und charakteristische Herausbilden emergenter Eigenschaften. Zwar gibt es auch bei vielen monolithischen Systemen das Phänomen der Emergenz, aber häufig bringt man damit eher unerwünschte Effekte in Verbindung, die die Systemelemente erst im Kollektiv zeigen. Bei einem Flugzeug jedoch sollen das Antriebssystem (bestehend aus Triebwerk, Triebwerksverkleidung und Schubumkehr) und das zugehörige Luftfahrzeug im Zusammenspiel nicht plötzlich Eigenschaften herausbilden, die nicht in den entsprechenden Subsystemen lokalisierbar wären. Das Antriebssystems ist nun mal dafür zuständig, die (Vortriebs-)Kraft für das Flugzeug zu erzeugen, damit dieses aktiv vom Boden abheben, selbständig an Höhe gewinnen, und sich im Luftraum vorwärts bewegen kann.
Und legt man nun noch das letzte Kriterium an, die geographische Verteilung, so wird man feststellen, dass das Antriebssystem nicht nur eine enge räumliche Nähe zum Rest des Flugzeugs hat, sondern mit diesem auch noch erhebliche Mengen an mechanischen Kräften, Stoffen und Energie austauscht.
Beispiele für System Of Systems
System of Systems entstehen meist im Kontext großer Entwicklungsvorhaben mit zumeist langer Laufzeit, an denen oftmals mehrere Organisationen beteiligt sind (sog. joint undertakings). Derartige Vorhaben werden häufig auch Programme genannt. Hier ein paar Beispiele für bekannte System of Systems Engineering (SoSE) Projekte:
- US Coast Guard Integrated Deepwater System [PDF]: Ein Modernisierungsprogramm mit einer Laufzeit von 25 Jahren, bei dem die US-amerikanische Küstenwache ihre veralteten technischen Anlagen ersetzen und gleichzeitig ihre operationellen und technischen Fähigkeiten steigern möchte.
- The Global Earth Observation System of Systems (GEOSS): Ein verteiltes/dezentrales System zur Erdbeobachtung (Die Beobachtung der Erdoberfläche und der Erdatmosphäre aus großer Höhe)
- Zahlreiche C4ISR-Programme im militärischen Kontext, d.h.: die Vernetzung von Führungs-, Informations- und Überwachungssystemen mit dem Ziel ein genaueres Lagebild zu erhalten.
- Single European Sky ATM Research Programme (SESAR) [PDF]: Vereinheitlichung, Harmonisierung und Synchronisierung der Dienste im Rahmen des europäischen Flugverkehrsmanagements.
- Space Situational Awareness (SSA) Programm der ESA: Das SSA-Programm der europäischen Weltraumbehörde ESA dient u.a. der Beobachtung von erdnahen Objekten (z.B. Asteroiden), um vor allem potenzielle Gefahren für die Infrastruktur im Orbit (Satelliten), bzw. Bedrohungen für die Erde erkennen zu können.
- Wide Area Augmentation System (WAAS): Ein System of Systems der Federal Aviation Administration (FAA) zur Verbesserung der Genauigkeit des bestehenden US-amerikanischen Global Positioning Systems (GPS).
Sehr verständlich erklärt! Danke!
Sehr schöner Artikel. Für mich besteht die Kernaussage aus >>Es besteht aus einer Vielzahl von (lose) gekoppelten Elementen, von denen die meisten auch aus dem Verbund wieder herausgelöst und in einem anderen Kontext verwendet werden können.<< ( Wo man nun wieder definieren kann was lose gekoppelt bedeuten soll) 😉